Zweiter Fruhling
[Sonic Seducer, November 2005. Text: Marcel Anders. Foto: Anton Corbijn.]







War im letzten Monat noch das Gothrock-Traumpaar Cristina Scabbia und Ville Valo der Star unserer großen Coverstory, so pr:asentieren wir Euch in diesem Monat die Titelgeschichte der absoluten Superlative: Wir trafen uns mit den beiden Elektro-Ikonen Martin Gore und Douglas McCarthy zum Exklusivinterview – bei dem ganz nebenbei die weltweit einzige Fotosession im Rahmen der Veröffentlichung des kommenden DM-Albums “Playing The Angel” entstand – und plauderten mit den beiden langjährigen Freunden über Gott und die Welt. Außerdem schnappten wir uns noch Depeche Mode-Sänger Dave gahan zum Vier-Augen-Gespräch. Wir wünschen gute Unterhaltung! Rechtzeitig zum 25. Dienstjubiläum wollen es die britischen Superstars noch einmal wissen. Mit “Playing The Angel” legen Dave, Martin und Fletch ihr stärkstes Album seit den frühen 90ern vor. Und das ist längst nicht die einzige Änderung im bewegten DM-Kontext.
Wobei Dave Gahan an diesem Mittwochnachmittag im Berlin Grand Hyatt vor allem eines ist. Sichtlich ge- und entnervt. Zu lange sitzt der 43-jährige schon in seiner Hotelsuite, raucht Zigarillo, schlürft Kaffee und beantwortet die immer selben Fragen. Etwa zu seinem fast schon unverschämt frischen, gesunden Aussehen, das keinerlei Spuren der wilden 90er mehr aufweist, als er ein physisches wie psychisches Wrack war. Er ist ran und schlank, voll konzentriert und wirkt – mit Ausnahme der ersten grauen Haare – immer noch extrem jugendlich. “Ich habe wohl die richtigen Gene”, lacht Dave zaghaft. “Aber ich tue auch wirklich viel für mich und meinen Körper. Ich gehe zum Beispiel jeden Morgen joggen – am Hudson River in New York, wo ich wohne. Und anschließend noch eine Runde schwimmen.” Womit die eine Standard-frage respektive Antwort vom Tisch wäre – und gleich die nächste ansteht. Natürlich nach dem aktuellen Innenleben der erfolgreichsten Elektro-Pop-Band der Welt, die von ihren bisherigen zehn Studioalben über 50 Millionen Stück verkaufen konnte, und bei der es trotzdem immer mal wieder kräftig kriselt.
Sei es wegen personeller Umbesetzungen (Vince Clarke, Alan Wilder), wilder Exzesse, die im Falle von Sänger Dave Gahan beinahe tödlich geendet hätten, oder auch musikalischer Differenzen. Die zeigten sich zuletzt im Sommer 2003, als Frontmann Gahan und Keyboarder / Gitarrist Gore gleichzeitig ihre Soloalben vorlegten und sich ein verbittertes Verbalgefecht um die Führungsposition sowie die Zukunft der Band lieferten. Gahan forderte mehr Einfluss auf das Songwriting, das bislang ausschließlich von Gore stammt. Und nach dem bahnbrechenden Erfolg seines Alleingangs “Paper Monsters” bekam er den auch. Was eine Trennung so gerade noch mal verhinderte. “Hör doch auf mit diesem Blödsinn”, winkt Dave ab. “Keiner von uns hat je vorgehabt, die Band aufzulösen. Das war doch nur eins von diesen vielen unsäglichen Gerüchten, die im Internet kursieren und die von irgendwelchen gelangweilten Fans stammen. Eben Leute, die nichts Besseres zu tun haben, als irgendwelchen Mist zu verbreiten – und sich daran hochziehen. Die Wahrheit ist die: Noch bevor wir uns an die Aufnahmen gemacht haben, war allen Beteilligten klar, dass ich ein paar Songs zu dieser Platte beisteuern würde, und das war kein wirkliches Problem. Genauso wenig wie die Tatsache, dass es erst mal nur drei Stücke sein sollten, damit sich Martin nicht völlig zurückgestellt fühlt. Schließlich war er bislang der Hauptsongwriter der Band und hat alles alleine gemacht. Von dieser Position muss er langsam zurücktreten.” Wobei Dave, der nach eigenem Bekunden ein Dutzend Songs geschrieben hat, keinen Hehl daraus macht, wie nervös er war, seinen Bandkollegen das eigene Material vorzustellen. “Oh Mann, das war total nervenaufreibend, weil du ja nie weißt, wie sie reagieren, und es nichts Schlimmeres gibt, als auf Ablehnung zu stoßen. Das tut wahnsinnig weh. Deswegen spiele ich die Sachen immer erst meiner Frau vor. Ganz einfach, weil ich ihr vertraue. Sie versteht mich und sagt ganz offen, was sie denkt.” Und Frau Gahan hat abgenickt – genau wie der Herren Gore und Fletcher. Überhaupt präsentiert sich das Trio auf seinem neuen, elften Album “Playing The Angel” in geradezu bestechender Form. Davon zeugt bereits der Opener “A Pain That I’m Used To”, den Depeche Mode mit einem ungewohnt heftigen Industrial-Gewitter starten, wie es symbolträchtiger kaum sein könnte. Nach vierjähriger Plattenpause bemühen sich die Briten um einen neuen, frischen Ansatz. Statt gediegener Melancholie wie auf den letzten beiden Epen “Exciter” (2001) und “Ultra” (1997), geht es nun bewusst experimentell und progressiv zur Sache. Mit Songs, die endlich wieder Biss haben. “Stimmt, die Platte hat definitiv Zähne”, setzt Dave an. “Und die hat wohl Ben Hillier eingebracht, unser Produzent. Er hat dafür gesorgt, dass die Songs etwas schneller und rasanter ausfallen, und er hat uns immer wieder angespornt, etwas Neues zu probieren und einfach mal was zu wagen. Was für eine unglaubliche Frische gesorgt hat Eben wie ein Kick, ein Energieschub, der uns sehr gut getan hat. Und was seinen Sound betrifft, so ist der einerseits sehr sauber, hat aber andererseits auch jede Menge Ecken und Kanten. Er ist also nicht zu poliert. Wenn irgendwo ein bisschen Krach aufgetaucht ist, durfte er auch bleiben. Mehr noch: Er hat ganz bewusst mit Rückkopplungen und Verzerrungen gearbeitet. Sei es mit alten Analog-Synthies oder indem er ständig versucht hat, verrückte Sounds zu kreieren. Er hat traditionelle Instrumente genommen und sie so lange manipuliert und verfremdet, bis sie richtig spannend klangen.” Wobei das Grundgerüst der zwölf Songs aber immer auf kantigen, dreckigen Gitarrenriffs, martialischen Synthie-Eruptionen und groovig-verspielten Beats basiert. So beginnt “John The Revelator” mit einer futuristischen Klanginstallation in bester Björk-Manier, ehe Gahan, Gore und Fletcher in einen ähnlich hypnotischen Elektro-Blues verfallen wie bei Klassikern à la “Personal Jesus” oder “Enjoy The Silence”. “Es hat wirklich was davon”, gibt Dave lächelnd zu. “Aber das hat vielleicht auch allein damit zu tun, dass es eine ähnliche Zeit war. Anfang der 90er hatten wir Bush Sr. und den Golf-Krieg. Eine Dekade später ist es sein Sohn, der denselben Blödsinn macht un scheinbar nicht genug bekommen.” Eine ungewohnt deutliche und klare Aussage aus dem Mund eines Mannes, der sich ansonsten in Sachen Politik bewusst zurückhält, aber gerade in “John The Revelator” eine klare Botschaft vermittelt: “Wir sollten endlich begreifen, dass es nur einen Gott gibt. Und der ist überall derselbe.” Und inszeniert mit viel Leidenschaft, Pathos, einer intensiven Düster-Stimmung und kessen Sound-Ideen. Da tuckert, zischt, wabert und knarzt es aus allen Richtungen – wie auf den visionären Synthie-Pop-Alben der 80er (“Some Great Reward”, “Black Celebration”), aber halt gemixt mit den zwingenden Melodien der frühen 90er. Musterbeispiel für diesen Ansatz ist “Suffer Well”, ein Stück, das auch auf “Violator” oder “Songs Of Faith And Devotion” Platz gefunden hätte – und das Trio in neuer alter Größe zeigt, in ähnlich bestechender Form wie vor Gahans Drogeneskapaden (1996), dem Nervenzusammenbruch von Fletcher (1994) sowie den diversen Solo-Ausflügen der jüngsten Vergangenheit. Dieses Trio steckt voller Energie und Tatendrang und ist festen Willens, es noch einmal zu packen.
[Sonic Seducer, November 2005. Text: Marcel Anders. Foto: Anton Corbijn.]







War im letzten Monat noch das Gothrock-Traumpaar Cristina Scabbia und Ville Valo der Star unserer großen Coverstory, so pr:asentieren wir Euch in diesem Monat die Titelgeschichte der absoluten Superlative: Wir trafen uns mit den beiden Elektro-Ikonen Martin Gore und Douglas McCarthy zum Exklusivinterview – bei dem ganz nebenbei die weltweit einzige Fotosession im Rahmen der Veröffentlichung des kommenden DM-Albums “Playing The Angel” entstand – und plauderten mit den beiden langjährigen Freunden über Gott und die Welt. Außerdem schnappten wir uns noch Depeche Mode-Sänger Dave gahan zum Vier-Augen-Gespräch. Wir wünschen gute Unterhaltung! Rechtzeitig zum 25. Dienstjubiläum wollen es die britischen Superstars noch einmal wissen. Mit “Playing The Angel” legen Dave, Martin und Fletch ihr stärkstes Album seit den frühen 90ern vor. Und das ist längst nicht die einzige Änderung im bewegten DM-Kontext.
Wobei Dave Gahan an diesem Mittwochnachmittag im Berlin Grand Hyatt vor allem eines ist. Sichtlich ge- und entnervt. Zu lange sitzt der 43-jährige schon in seiner Hotelsuite, raucht Zigarillo, schlürft Kaffee und beantwortet die immer selben Fragen. Etwa zu seinem fast schon unverschämt frischen, gesunden Aussehen, das keinerlei Spuren der wilden 90er mehr aufweist, als er ein physisches wie psychisches Wrack war. Er ist ran und schlank, voll konzentriert und wirkt – mit Ausnahme der ersten grauen Haare – immer noch extrem jugendlich. “Ich habe wohl die richtigen Gene”, lacht Dave zaghaft. “Aber ich tue auch wirklich viel für mich und meinen Körper. Ich gehe zum Beispiel jeden Morgen joggen – am Hudson River in New York, wo ich wohne. Und anschließend noch eine Runde schwimmen.” Womit die eine Standard-frage respektive Antwort vom Tisch wäre – und gleich die nächste ansteht. Natürlich nach dem aktuellen Innenleben der erfolgreichsten Elektro-Pop-Band der Welt, die von ihren bisherigen zehn Studioalben über 50 Millionen Stück verkaufen konnte, und bei der es trotzdem immer mal wieder kräftig kriselt.
Sei es wegen personeller Umbesetzungen (Vince Clarke, Alan Wilder), wilder Exzesse, die im Falle von Sänger Dave Gahan beinahe tödlich geendet hätten, oder auch musikalischer Differenzen. Die zeigten sich zuletzt im Sommer 2003, als Frontmann Gahan und Keyboarder / Gitarrist Gore gleichzeitig ihre Soloalben vorlegten und sich ein verbittertes Verbalgefecht um die Führungsposition sowie die Zukunft der Band lieferten. Gahan forderte mehr Einfluss auf das Songwriting, das bislang ausschließlich von Gore stammt. Und nach dem bahnbrechenden Erfolg seines Alleingangs “Paper Monsters” bekam er den auch. Was eine Trennung so gerade noch mal verhinderte. “Hör doch auf mit diesem Blödsinn”, winkt Dave ab. “Keiner von uns hat je vorgehabt, die Band aufzulösen. Das war doch nur eins von diesen vielen unsäglichen Gerüchten, die im Internet kursieren und die von irgendwelchen gelangweilten Fans stammen. Eben Leute, die nichts Besseres zu tun haben, als irgendwelchen Mist zu verbreiten – und sich daran hochziehen. Die Wahrheit ist die: Noch bevor wir uns an die Aufnahmen gemacht haben, war allen Beteilligten klar, dass ich ein paar Songs zu dieser Platte beisteuern würde, und das war kein wirkliches Problem. Genauso wenig wie die Tatsache, dass es erst mal nur drei Stücke sein sollten, damit sich Martin nicht völlig zurückgestellt fühlt. Schließlich war er bislang der Hauptsongwriter der Band und hat alles alleine gemacht. Von dieser Position muss er langsam zurücktreten.” Wobei Dave, der nach eigenem Bekunden ein Dutzend Songs geschrieben hat, keinen Hehl daraus macht, wie nervös er war, seinen Bandkollegen das eigene Material vorzustellen. “Oh Mann, das war total nervenaufreibend, weil du ja nie weißt, wie sie reagieren, und es nichts Schlimmeres gibt, als auf Ablehnung zu stoßen. Das tut wahnsinnig weh. Deswegen spiele ich die Sachen immer erst meiner Frau vor. Ganz einfach, weil ich ihr vertraue. Sie versteht mich und sagt ganz offen, was sie denkt.” Und Frau Gahan hat abgenickt – genau wie der Herren Gore und Fletcher. Überhaupt präsentiert sich das Trio auf seinem neuen, elften Album “Playing The Angel” in geradezu bestechender Form. Davon zeugt bereits der Opener “A Pain That I’m Used To”, den Depeche Mode mit einem ungewohnt heftigen Industrial-Gewitter starten, wie es symbolträchtiger kaum sein könnte. Nach vierjähriger Plattenpause bemühen sich die Briten um einen neuen, frischen Ansatz. Statt gediegener Melancholie wie auf den letzten beiden Epen “Exciter” (2001) und “Ultra” (1997), geht es nun bewusst experimentell und progressiv zur Sache. Mit Songs, die endlich wieder Biss haben. “Stimmt, die Platte hat definitiv Zähne”, setzt Dave an. “Und die hat wohl Ben Hillier eingebracht, unser Produzent. Er hat dafür gesorgt, dass die Songs etwas schneller und rasanter ausfallen, und er hat uns immer wieder angespornt, etwas Neues zu probieren und einfach mal was zu wagen. Was für eine unglaubliche Frische gesorgt hat Eben wie ein Kick, ein Energieschub, der uns sehr gut getan hat. Und was seinen Sound betrifft, so ist der einerseits sehr sauber, hat aber andererseits auch jede Menge Ecken und Kanten. Er ist also nicht zu poliert. Wenn irgendwo ein bisschen Krach aufgetaucht ist, durfte er auch bleiben. Mehr noch: Er hat ganz bewusst mit Rückkopplungen und Verzerrungen gearbeitet. Sei es mit alten Analog-Synthies oder indem er ständig versucht hat, verrückte Sounds zu kreieren. Er hat traditionelle Instrumente genommen und sie so lange manipuliert und verfremdet, bis sie richtig spannend klangen.” Wobei das Grundgerüst der zwölf Songs aber immer auf kantigen, dreckigen Gitarrenriffs, martialischen Synthie-Eruptionen und groovig-verspielten Beats basiert. So beginnt “John The Revelator” mit einer futuristischen Klanginstallation in bester Björk-Manier, ehe Gahan, Gore und Fletcher in einen ähnlich hypnotischen Elektro-Blues verfallen wie bei Klassikern à la “Personal Jesus” oder “Enjoy The Silence”. “Es hat wirklich was davon”, gibt Dave lächelnd zu. “Aber das hat vielleicht auch allein damit zu tun, dass es eine ähnliche Zeit war. Anfang der 90er hatten wir Bush Sr. und den Golf-Krieg. Eine Dekade später ist es sein Sohn, der denselben Blödsinn macht un scheinbar nicht genug bekommen.” Eine ungewohnt deutliche und klare Aussage aus dem Mund eines Mannes, der sich ansonsten in Sachen Politik bewusst zurückhält, aber gerade in “John The Revelator” eine klare Botschaft vermittelt: “Wir sollten endlich begreifen, dass es nur einen Gott gibt. Und der ist überall derselbe.” Und inszeniert mit viel Leidenschaft, Pathos, einer intensiven Düster-Stimmung und kessen Sound-Ideen. Da tuckert, zischt, wabert und knarzt es aus allen Richtungen – wie auf den visionären Synthie-Pop-Alben der 80er (“Some Great Reward”, “Black Celebration”), aber halt gemixt mit den zwingenden Melodien der frühen 90er. Musterbeispiel für diesen Ansatz ist “Suffer Well”, ein Stück, das auch auf “Violator” oder “Songs Of Faith And Devotion” Platz gefunden hätte – und das Trio in neuer alter Größe zeigt, in ähnlich bestechender Form wie vor Gahans Drogeneskapaden (1996), dem Nervenzusammenbruch von Fletcher (1994) sowie den diversen Solo-Ausflügen der jüngsten Vergangenheit. Dieses Trio steckt voller Energie und Tatendrang und ist festen Willens, es noch einmal zu packen.